Stahlqualität heute und früher

Begonnen von steelbutt, 29. September 2009, 09:44:34

Vorheriges Thema - Nächstes Thema

0 Mitglieder und 1 Gast betrachten dieses Thema.

steelbutt

Hallo,

es ist hier ja oft die Rede von "gutem, altem Stahl". Wenn ich richtig informiert bin, steigt der Stahlpreis ja mehr oder minder kontinuierlich, gleichzeitig wird mehr und mehr Schrott aufbereitet und wiederverwendet. Ist das möglicherweise der Grund dafür, dass alte Stähle als besser empfunden werden und Rasiermesser aus aktueller Produktion bei den Profis weniger gefragt sind? Ist es heute schwieriger, an Stahl in für Rasiermesser geeigneter Qualität zu kommen als vor 50 Jahren? Für Expertenmeinungen wäre ich dankbar.

steelbutt

moviemaniac

Was die subjektive "Qualität" anbelangt habe ich ein Beispiel:

Vor etwa 200 Jahren gab es den sogenannten "Cast Steel", der erste für Rasiermesser brauchbare Stahl. Das Verfahren war sicherlich wesentlich unexakter als heute, die Streuung breiter. Und dennoch sind diese "Cast Steel"-Messer unter den gründlichsten und gleichzeitig sanftesten in meiner Sammlung.
Rasiermesserstahl muss speziellen Anforderungen genügen. Ich denke, dass es sich heute einfach nicht mehr lohnt, solch spezielle Stähle für die kleinen Produktionsmengen zu erzeugen.
Und ja, ich weiß, dass das ein gewisser Widerspruch in sich ist wenn man sich die Unexaktheit des Cast-Steel-Herstellungsverfahrens ansieht. Ich denke, mein Eindruck kommt von daher, dass die Zeit nur die besten Cast-Steel-Messer überdauert haben, alle anderen wurden im Laufe der letzten 150-170 Jahre verschrottet.
Herzliche Grüße aus Oberösterreich,
Klaus

UbuRoy

Sehe ich zum Teil auch so. Andererseits: Schneidwaren wie Werkzeuge, Messer, Scheren usw. werden heute nach wie vor aus sehr gutem Stahl oder gar besserem Stahl als früher hergestellt (Fräser, Drehmeißel, HSS Bohrer usw.).

Wieso diese Bestbrandkrücken und Konsorten aus so miesem Blech sind ist also nur mit Dummheit oder Gier zu erklären.

Da beides in der Regel Hand in Hand geht ist eigentlich egal, ob die erst doof und dann gierig oder umgekehrt sind.

lesslemming

Stahl war und ist heute immer ein Produkt das mit steigender Qualität teurer wird. Schrott ist eben billig
und aus Schrott wird häufig (nicht immer) auch wieder nur Schrott.

Die Anforderungen an Industriestahl sind gleich geblieben oder gar gestiegen, also an der Grundvorraussetzung: Qualitätsstahl liegt es nicht.

..:: Wer mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht ::..
..:: bekommt nie eine frische Unterhose ::..

Iltis

Ich glaube, es ist Irrtum zu glauben, das ältere Messer aus bessere Stahl als Heutige gemacht sind. Moviemaniacs Argument, das die Schlechten sich aussortiert haben ist für mich überzeugend - über 200 jahre hebt man bichts auf wenn es nichts taugt. Ich habe aber ein"Cast Steel" Messer der aber unbrauchbar ist, der Stahl ist zu weich dafür, das man ein Standhaften Grat erzeugen kann; Ausnahmen bestätigen der Regel.
Bei Messer wie "Best Brand" oder "Wittex" kann es genausogut an fehlenden Fachkompetenz als an schlechten Material liegen, das sie für uns nutzlos sind. Dovo und T.I. beweisen dass man immer noch Rasiermesser für der tägliche Einsatz industriell produzieren kann. Ich bin nicht davon überzeugt, das ein Bengall von 1870 besser ist als ein moderner Dovo, finde ihn aber ästhetischer ;).
Meine Erfahrungen, dieses Jahr ein Rasiermesser schmieden zu lassen haben mir davon überzeugt, das man aus moderner industriestahl ein mehr als brauchbaren Messer machen kann - laut der Schmied ist es aus "Kugellagerstahl" (engl. "Bearing Steel"), leider habe ich dazu nichts näheres lernen können, auf jeden Fall, ist es weicher als viele vollhohl geschliffene Messer (der Schmied hat mir 55-60 Rockwellhärte versprochen), liess sich ohne probleme auf Rasurschärfe bringen, und musste seit dann, obwohl ich es mehrmals in der Woche benutzte, noch nicht mal auf den Pastenriemen.
Ich vermute, das der fachliche Qualität der Verarbeitung genauso wichtig ist als der Ausgangsqualität der Stahl, und das ist ein Gut, das in unsere Zeit sehr rar geworden ist. Deswegen gibt es nur wenige, und teuere moderne Rasiermesser die wirklich gut sind.
Gruß
Iltis
de gustibus, aut bene aut nihil

Geier0815

Um es gleich klar zu machen: Dies ist nur meine Meinung ohne echtes Hintergrundwissen!

Ich glaube schon das es heute bessere Stähle gibt aber diese sind teurer als das was in großen Mengen verkauft wird. Zweitens ist die Bearbeitung schwieriger als mit einem "normalen" Stahl und es ergeben sich daraus längere Produktionszeiten sowie ein höherer Verschleiß an den Werkzeugen zur Bearbeitung. Damit erklärt sich auch warum einige Anbieter sehr BILLIG anbieten, eben aufgrund eines schlechteren Stahls. Leider gibt es offensichtlich genug Käufer und leider werden nur die wenigsten über eines der Foren stolpern sondern die Messerrasur einfach an den Nagel hängen.
Ich glaube aber auch das früher einfach mehr Erfahrung vorhanden war um aus dem "schlechteren" Stahl trotzdem hochwertige Messer zu bauen, allein schon aufgrund der Tatsache das es mehr Leute in diesem Handwerk gegeben hat. Wie in jedem Handwerk wird jeder Meister seine Tricks gehabt haben die dann auch weiter gegeben und ausgetauscht wurden.

quickiekuchen

Und gehört ein stinknormales 59,00 EUR-Dovo auch zu den "Schlechten"?

Wilhelm

Das nicht, aber du hast zuviel gezahlt 8)
Zuviel des Guten
kann wunderbar sein!

Mae West

oldtimer70

Aus dem besten Rasiermesserstahl lassen sich nur dann erstklassige Messer herstellen, wenn es gelingt, den diffizilen Prozess der Wärmebehandlung während der Verarbeitung zu optimieren.
Vermutlich haben "Kellerbetriebe" oder Kyberpass-Schmiede damit erhebliche Probleme, da diese kaum über die nötigen Einrichtungen verfügen werden. Übrig bleibt dabei nur der Augenschein über Anlassfarben und Pi x Daumen Erfahrung, was jedoch nicht ausschließt, daß dabei hin und wieder durchaus brauchbare Erzeugnisse entstehen.

oldtimer70

UbuRoy

Außerdem wird es nicht mehr viele Dampf- oder Hydraulikbetriebene Gesenkschmieden in Pakistan oder sonstwo geben um überhaupt Rohlinge herzustellen... Denn das ist nicht nur TEUER.
Genauso steht es wohl um Schleifhexen.

Aber die Kosten dürften wohl der Hauptgrund sein.

fenriswolf

Jeder Stahl benötigt die für ihn entsprechende Wärmebehandlung um die für uns gewünschten Eigenschaften voll entfalten zu können. Aus Schrott ein gutes Messer zu fertigen wird ebenso wenig möglich sein, wie aus einem hochwertigen Stahl mit falscher Wärmebehandlung.

Beispiel: Vor einiger Zeit wurde in einem amerikanischen Forum ein Chandler Rasiermesser angeboten, dessen Klinge aus Wootz von Al Pendray gefertigt wurde. Pendray ist in der Fachwelt für seinen Wootz bekannt, Chandler baut schöne Rasiermesser. Nachdem mir der Verkäufer jedoch nicht sagen konnte, wer die Wärmebehandlung durchgeführt hat, ließ ich die Finger davon da Wootz aufgrund seines Gefüges noch einen Tick empfindlicher ist.

Für genormten Stahl gibt es Tabellen für die Wärmebehandlung. Meines Wissens jedoch erst seit dem Anfang des letzten Jahrhunderts. Zu einem Zeitpunkt wo Rasiermesser durch andere Rasurutensilien verdrängt wurden.

Da Rasiermesser im seltensten Fall einzeln wärmebehandelt wurden, gibt es eben Chargen mit überragenden Eigenschaften, bis hin zu Schrott.

Aber es macht ja Spass, aus der Flut des Angebotenen, die Sahneteile zu ergattern. Wenn es nur leichter wäre, diese schon beim Kauf erkennen zu können.  o)

harrykoeln

Stähle... eine Geschichte voller Mißverständnisse.

"Damals" war es jedenfalls undenkbar, das Bestreckmesser, Friseurscheren, Rasiermesser und und und aus einer "Stahlsosse" gemacht wurden. "Heute" ist das üblich.
Und genau DAS ist in meinen Augen der gravierende Unterschied.
Die Verfahren der Stahlherstellung sind, weil ja auch anwendungsspezifischer produziert wird, natürlich immer besser erforscht, ausgeklügelter und immer komplexer geworden. Bei einem wirklich neuen Hochofen, siehst Du von draussen gar nicht mehr wann abgestochen wird, weil der total gekapselt ist. Der wird komplett aus einer Messwarte gefahren. Erst auf dem Weg zum Walzwerk kommt der Stahl mit der Umgebung in Berührung. Durch permanente Überwachung der Prozesse kann die angestrebte Qualität wesentlich effizienter erreicht werden. Die Ansatzmengen werden größer, die Nachfrage nach Rasiermesserstahl immer geringer... spezielle Messerstähle lohnen sich einfach nicht mehr. Einen solchen Aufwand, wie dien Zwilling mit seinem Friodur getrieben hat, den ich für den wohl best erforschtesten Stahl für Schneidwaren halte, kann heute keiner mehr bezahlen.

So am Rande: Schrott, wird als sog. Kühlschrott bei der Stahlherstellung immer benötigt.

Und ist der Stahl dann aus dem Hochofen raus, hat er es ja noch lange nicht überstanden. Nichtsdestotrotz wage ich für mich zu behaupten, das alte Stähle für unsere Belange einfach die bessere Wahl sind. Es wurden eben Stähle für spezielle Schneidwaren hergestellt, das ist Fakt. In wie weit dort differenziert wurde für die unterschiedlichen Beanspruchungen, Scheren, Skalpelle, Kochmesser, Besteckmesser, Rasiermesser, Rasierklingen weiss ich nicht. Aber heute werden eben die Rasiermesser-Rohlinge aus Stählen hergestellt, aus denen auch Schneidwaren gemacht werden können und wie schon gesagt, für mich liegt genau da der Unterschied. 
"The two most common things in the universe are hydrogen and stupidity.
There is more stupidity around than hydrogen, and it has a longer shelf life."
Frank Zappa (1940-1993)

oldtimer70

Leider beschränken sich meine Kenntnisse verschiedener Stahlsorten auf solche, die in erster Linie für die individuelle Fertigung von hochwertigen Jagd- und Gebrauchsmessern, von verschiedenen kleineren Herstellern angeboten werden.
Einen sehr hohen Anteil daran haben mittlerweile die pulver-metallurgischen Stähle, während Damaststähle meist in Handarbeit und kleinen Abmessungen von Spezialisten feuergeschweißt werden.

Jedenfalls sind die auf dem Markt erhältlichen Messerstähle von gleichmäßiger Qualität und die Hersteller liefern auch auf jede Charge abgestimmte Anweisungen für die Wärmebehandlung dazu.
Es ist jedoch anzunehmen, daß der Bedarf an Rasiermesserstahl in Europa mittlerweile so gering geworden ist, daß die meisten der früheren Hersteller aus Gründen der Wirtschaftlichkeit einfach "ausgestiegen" sind und damit vielleicht auch ein Teil des Fachwissens verloren gegangen ist.

Unsere schnell-lebige Zeit hat sich doch wohl als schlechter Nährboden für die Messerrasur erwiesen und ich habe daher großen Respekt vor den Messer-Rasierern und Rasiermesser-Restaurateuren des Forums, die sich bemühen, eine Tradition zu erhalten, die ich als Bestandteil unserer Kultur ansehe.

oldtimer70

matchless

Ja früher war halt vieles besser, manches aber auch nicht.
Also, Spass beiseite.
Ob es früher spezielle Stähle für Rasiermesser gab, weiss ich nicht. Einzig die Analyse eines alten Rasiermessers würde hier die Wahrheit bringen.
Ich werde bei Gelegenheit mal eine Probe bei der EMPA (Eidgenössische Materialprüfungs Anstalt) machen lassen. Ich muss mich aber zuerst über den Preis informieren, und wieviel die von dem "Stoff" brauchen.

Was ich aber mit Sicherheit weiss, ist das, dass es heute Stähle mit excellenter immer gleich bleibender Qualität gibt. Es gibt ca. 2000 verschiedene Sorten.
Das schwierige ist, die für eine bestimmte Verwendung geeignete Sorte auszuwählen.

Ein Kilogramm hochwertiger Werkzeugstahl kostet ca.  € 10. ( aktueller Tagespreis hab ich grad nicht zur Verfügung) Ihr seht, der Rohstoffpreis ist nicht wirklich das teure an einem Rasiermesser. Erst die fachkundige Bearbeitung macht den Preis. Gesenkschmieden, Schmiedegrat abstanzen, Wärmebehandlung, Schleifen, Polieren, Schärfen etc. In wahrheit sind es noch viele weitere Arbeitsschritte.

Müsste ich einen Werkstoff für ein Rasiemesser auswählen, bin ich überzeugt dass ich mit einem 1.2210 oder 1.2510 gar nicht so schlecht bedient wäre.
@ Iltis dein Kugellagerstahl/Wälzlagerstahl wird wahrscheinlich ein 100CrMn6 sein, der sich für ein Messer durchaus eignet.

Am Rande: Aus einen Hochofen kommt Roheisen. Graues Roheisen geht in die Gussverarbeitung. Durch das Frischen von weissem Roheisen wird Stahl. Werkzeugstahl wird dann immer noch zusätzlich im Elektroofen umgeschmolzen und legiert. Ganz hochwertige, reinste Stähle im ESU-Verfahren. (Elektro Schlacke Umschmelzverfahren) Übrigens, die Geräte für die Analyse der Schmelze sind derart genau dass z.B. ein im Bodensee gelöstes Stück Würfelzucker nachgewiesen werden könnte.

Ich wünsche allen ein schöes Wochenende.
Gruss George

shaved

Stumpfe Messer schärft man. Schleifen ist etwas anderes.